Acht Lesungen

  mit Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern der Robert Bosch Stiftung



Fremd sein...
 

Catalin Dorian Florescu
Einführung
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Professor Pröpstls Puppentheater, Dienstag, 21. 06. 05

 
Marica Bodrozic
Yoko Tawada
Adel Karasholi
Zehra Çirak
Selim Özdogan
Vladimir Vertlib
Catalin D. Florescu
Francesco Micieli



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Das gelbe Zollhaus hat Fenster, und mehrere Türen gehen auf
und wieder zu. Vater findet bestimmt einen Ausgang. Den
halten sie bestimmt nicht fest. Vater ist großartig, wenn es
darauf ankommt. Und jetzt kommt es darauf an. Jetzt sitzen
wir nicht im Kino, wir sitzen in der Realität, und Vater kennt
sich gut damit aus. Er wird es schaffen, aus diesem Häuschen
dort vorne herauszutreten. Er ist zu schlau für sie. Er wird es
schaffen, und die Geschichte wird gut ausgehen.
Hier also leisten unsere Jungs Dienst. Hier also, am Ende
unseres Vaterlandes. Unsere Jungs. So nennt sie der Tages-
schausprecher, und seine Stimme bebt, die Erde kann auch
beben. 1977 bebte bei uns die Erde. Wenn aber die Stimme
bebt, geht es um höhere Dinge. Das hat mir Mutter erklärt.
“Mein Küken, das ist doch ganz einfach,“ hat sie gesagt. „Wenn
du mal später Klassenerster bist und diesen Rascha Mircea
überholt hast, dann wird meine Stimme beim Erzählen beben.“
Mutter übertreibt gelegentlich. Was sie jedenfalls damit sagen
wollte, ist, daß es etwas mit Stolz zu tun hat. Aber Mütter
drücken es immer so umständlich aus. Zuerst rufen sie hundert-
mal „Mamas Küken“, dann erst kommen sie zur Sache. Es ist
zum Verzweifeln.
Unsere Jungs bewachen in der Ferne unseren Wagen auf dem
leeren Parkplatz des Grenzpostens. Sie tragen die Schönwetter-
uniform. Unter dem Hemd schwitzen sie ein bißchen.
10. August. Neun Uhr morgens.
Es sind genau zwei Minuten und dreißig Sekunden vergangen,
seit Vater das Auto verlassen hat. Vor genau einer Minute ist er
im Haus verschwunden. Da haben sie ihn bestimmt nicht foltern
können, in einer Minute. In einer Minute, da können sie nicht
einmal fertigpissen, unsere Jungs. Ich habe einmal die Zeit
gestoppt: Hosenschlitz auf, pissen, den Willi schütteln, Hosen-
schlitz zu. Knapp eine Minute. Zuschlagen liegt da nicht drin.
Wir sind am Ende unseres Vaterlandes. Es hat, wie alle
anderen Dinge, auch ein Ende. Man kann ihm das Ende früher
oder später setzen.
“Früher der später, da werde ich wahnsinnig“, sagte Mutter.
“Früher oder später, da schlage ich zu“, sagte Vater.
“Früher oder später, da verlasse ich dich.“
“Früher oder später, da verlassen wir dieses Irrenhaus. Wir
setzen dem Ganzen ein Ende.“
Wir wählten früher.
Wo wir uns gerade befinden, da geschehen Wunder, oder auch
nicht, und wenn sie doch geschehen, dann nennen die
Erwachsenen das Danach Freiheit. Ich verstehe nicht viel
davon, aber eine tolle Sache ist es allemal. Wie der Stolz. Die
Freiheit fängt dort hinter der Absperrung an. Bei der gelben
Tafel mit der unverständlichen Schrift drauf: Jugoslawien.
Zeit für das fünfte Wunder.
Vater, wo bleibst du?

Ausschnitt aus: Wunderzeit, Pendo, Zürich 2001